Wenn Partner Eltern werden – Phasen der Familienwerdung

Paare durchlaufen bei der „Elternwerdung“ verschiedene Phasen, die sich bei allen Paaren ähneln.

Der Übergang zur Elternschaft ist ein natürlicher Prozess im menschlichen Lebenslauf, der mit Erwartungen und Hoffnungen ebenso verbunden ist wie mit Verunsicherungen, Stress und Ängsten. Er beginnt, wenn sich Paare Gedanken über eine erste Schwangerschaft machen, und wird im Verhalten, Denken und Erleben der Betroffenen konkret, wenn mit einer Schwangerschaft gerechnet wird bzw. Anzeichen dafür vorhanden sind. Vollzogen ist der Übergang etwa sechs bis zwölf Monate nach der Geburt, wenn eine „Phase der Gewöhnung” erreicht ist. Die Eltern haben sich an das Anspruchsniveau des Kindes angepasst und erleben sich als kompetent im Umgang mit dem Kind. Auch die Beziehungen der Eltern untereinander und zu ihrer sozialen Umwelt haben sich auf einem neuen Niveau wieder stabilisiert. Mit dem zweiten Lebensjahr beginnt ein neuer Abschnitt für das Kind und damit für die Eltern.

Die ungefähr zwei Jahre lassen sich in zwei Zyklen von je vier Phasen einteilen. Der erste Zyklus der Schwangerschaft umfasst die Verunsicherungsphase, die Anpassungsphase, die Konkretisierungsphase und die Erwartungs- und Vorbereitungsphase. Der zweite Zyklus kann ebenfalls in vier Phasen eingeteilt werden: Geburt, Phase der Überwältigung und Erschöpfung, Phase der Herausforderung und Umstellung und Gewöhnungsphase.

Der Zyklus der ersten Schwangerschaft:
Verunsicherungsphase (bis ca. zur 12. Schwangerschaftswoche)

Die ersten begründeten Erwartungen

Die ersten begründeten Erwartungen (oder Befürchtungen) in Bezug auf die Schwangerschaft leiten die Verunsicherungsphase ein. Eine Vielzahl von Vorstellungen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten melden sich, die Schwangerschaft wird ambivalent erlebt. Ein neuer Planungshorizont eröffnet sich, da Veränderungen im Selbstkonzept, im Alltagsleben, in der Partnerschaft, im Beruf und in den Beziehungen zu anderen Personen anstehen. Ängste bezüglich eines möglichen Kontrollverlustes treten auf: Der Zeitplan für eine Schwangerschaft ist biologisch vorgegeben, die bisher gewohnte Unabhängigkeit ist in Frage gestellt.

Körperliche Veränderungen und Unannehmlichkeiten dieser Phase werden als sinnvoll im Hinblick auf den weiteren Verlauf der Schwangerschaft, die Geburt und das erwartete Neugeborene angesehen. Diese mehr oder weniger bewusste „Sinngebung" unterstützt die Verarbeitung vor allem negativer Wahrnehmungen und Befindlichkeiten. Über normative Vorgaben der sozialen Umwelt, also wie „man” sich in dieser Zeit zu fühlen hat und was „man” zu tun hat, ist für diesen Zeitraum nichts bekannt.

Die Situation des Mannes ist der seiner Partnerin sehr ähnlich. Er verfügt über nahezu identische Informationsquellen wie sie. Lediglich die physiologischen Wahrnehmungen sind für ihn nur in engen Grenzen nachvollziehbar. Ist die Schwangerschaft von beiden erwünscht, wird der Mann sich um erhöhte Kommunikation mit der Frau bemühen, um sich in ihre Situation hineinversetzen zu können – Vaterschaft findet eben vor allem im Kopf statt. Seine bisherige Liebespartnerin wird zur schwangeren Frau und zur werdenden Mutter – eine neue soziale Kategorisierung seiner Partnerin steht bevor. Die Partner überprüfen jetzt verstärkt ihren Bekanntenkreis auf vertrauenswürdige Personen, zu denen auch professionelle Helfer gehören können. Bald beginnen erste Gespräche mit Bekannten bezüglich der Schwangerschaft, möglicher ambivalenter Gefühle und den damit verbundenen Problemen. Die erste soziale Isolation, verursacht durch den Beginn der Schwangerschaft, ist überwunden – eine wichtige Leistung.

Anpassungsphase (ca. 12. bis 20. Schwangerschaftswoche)

Auch in der Anpassungsphase können ambivalente Gefühle auftreten, die zugelassen und verarbeitet werden müssen. Die Kompetenzen, die bei dieser Verarbeitung gewonnen werden, sind im weiteren Verlauf der Schwangerschaft, aber auch bei der Geburt und später im Umgang mit dem Kind immer wieder von Bedeutung. Zu dieser Phase wird die Schwangerschaft emotional akzeptiert, die bevorstehende Geburt des ersten Kindes nun auch dem weiteren Bekanntenkreis mitgeteilt. Körperliches und seelisches Wohlgefühl verbessern sich deutlich. Die Frau bildet ein Körpergefühl als Schwangere heraus.

Diese Phase wird als etwas Besonderes erlebt. Das Paar erreicht ein neues Gleichgewicht und Wohlbefinden auf einem neuen Niveau, eine sehr wichtige Leistung. Durch verschiedene Maßnahmen wird versucht, den Schwangerschaftsablauf günstig zu beeinflussen und wieder Kontrolle über die Situation zu erlangen. Insbesondere die Ernährungsumstellung unterstützt die Anpassung an die „anderen Umstände”.

Erste normative Vorgaben der sozialen Umwelt werden wirksam. Äußerungen und Reaktionen der Eltern, von Verwandten, Freunden und Bekannten, aber auch solche des Arbeitgebers werden zum Teil widersprüchlich erlebt, vor allem dann, wenn einschränkende Forderungen bezüglich der persönlichen Lebensführung an die Schwangere und ihren Partner gestellt werden („Als Schwangere solltest du jetzt aber …“, „Als werdender Vater müsstest du eigentlich ..."). Der Bekanntenkreis differenziert sich in Personen, die sich ermutigend und solidarisch verhalten, und solche, die sich entmutigend geben. Die Umstrukturierung des sozialen Netzwerkes beginnt.

Konkretisierungsphase (ca. 20. bis 32. Schwangerschaftswoche)

Die gesamte Situation in der Konkretisierungsphase ist gekennzeichnet von der Erfahrung der Frau, nun „wirklich schwanger” zu sein. Ängste und Depressionen bei Frauen sind allgemein am niedrigsten, psychosomatische Beschwerden treten kaum auf.

Die ersten regelmäßigen Kindsbewegungen stellen einen unmittelbar spürbaren Beweis für das Kind dar. In der Folge davon entstehen erste Vorstellungen vom Kind als selbständigem, differenziertem Wesen. Diese Vorstellungen werden zunehmend komplexer und passen sich mehr und mehr der Realität an. Die Bewegungen des Kindes lösen Freude, Stolz und ein Gefühl großer Erfülltheit aus. Ein Gefühl der Sicherheit und Erleichterung stellt sich ein. Es entsteht ein großes Bedürfnis, anderen Personen die empfundenen positiven Gefühle mitzuteilen.

Planung und Konzepte der Eltern werden in dieser Phase realistischer. Die sexuellen Bedürfnisse der Frau nehmen zum Teil wieder zu. Die Partnerschaft wird als sehr befriedigend erlebt.

Ab dem 7. Monat erlebt die Frau zum Teil wieder ambivalente Gefühle gegenüber dem eigenen Körper. Ihre Schwangerschaft ist jetzt meist deutlich sichtbar und führt zu Reaktionen der sozialen Umwelt. Diese Rückmeldungen verstärken den Wandel des Selbstbildes.

Durch Ultraschalluntersuchungen, die das Kind sichtbar machen, wird auch der Vater neu in das Schwangerschaftsgeschehen einbezogen. Er erhält Kenntnisse über das Aussehen des Kindes und über mögliche Erkrankungen. Die Schwangerschaft wird zunehmend zu einer gemeinsamen Sache von Frau und Mann. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, Schwangerschaftsgymnastik und Geburtsvorbereitungskurse gewinnen an Wichtigkeit. Diese Aktivitäten bieten Möglichkeiten, den Bekanntenkreis zu erweitern bzw. den Bekanntenkreis den neuen Bedürfnissen anzupassen.

Phase der Antizipation und Vorbereitung (ca. 32. bis 40. Schwangerschaftswoche)

Vordringliche Merkmale dieser Phase sind einerseits das Zunehmen körperlicher Beschwerden und andererseits die unmittelbare Erwartung der Geburt. Beide Partner richten nun ihre Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Geburt. Sie spielen die Risiken und Unwägbarkeiten der Geburt gedanklich immer wieder durch. Befürchtungen, die Ereignisse nicht beherrschen zu können, treten in den Vordergrund.

Die Frau nimmt extreme körperliche Veränderungen und zunehmende Beschwerden wahr; Stimmungsschwankungen sind oft die Folge. Die Grundstimmung ist unbeständig und tendiert häufig  zu negativen Gefühlen. Alle Alltagstätigkeiten sind von nun an auf das bevorstehende Ereignis der Geburt ausgerichtet. Die Zeitperspektive wechselt (ursprünglich: „Die Zeit, die bisher verstrichen ist”; jetzt: „Die Zeit, die noch bleibt“). Die innere Bereitschaft zur Beendigung der Schwangerschaft steigt.

Der zweite Zyklus: Geburt und erstes Lebensjahr

Geburtsphase

Die Geburt des ersten Kindes ist sowohl eine biologische als auch eine soziale Situation. Sie wird als Kulminations- und Wendepunkt in der individuellen Familiengeschichte angesehen. Aus der ursprünglichen Zweierbeziehung wird eine Dreierbeziehung.

Die besondere Schwierigkeit in der Geburtsphase besteht vor allem darin, dass sich einerseits die Situation kontinuierlich verändert und dabei von der Frau eine aktive, der jeweilig veränderten Situation angepasste Mitarbeit erwartet wird, sie jedoch durch Einschränkungen des Bewusstseins und der Wahrnehmung in der Mitarbeit und der Anpassungsfähigkeit behindert ist. Die Frau sieht sich einer sehr belastenden Situation ausgesetzt, die sie einerseits geschehen lassen muss, in der sie aber andererseits aktiv mitarbeiten muss. Gleichzeitig mit starken Schmerzempfindungen nimmt sie existentielle Angst. Kontrollverlust, Todesfurcht u. a. wahr. Die Anwesenheit des Vaters bei der Geburt wird in der Regel als Unterstützung empfunden.

Höhepunkt ist die erste Begegnung mit dem Kind direkt nach der Entbindung. Vorsichtiges Berühren mit den Fingerspitzen, Blickkontakte, Anlächeln und Ansprechen des Kindes, Bemerkungen zum Geschlecht oder Feststellen von Familienähnlichkeiten sind dabei typische Verhaltensweisen der Eltern.

Eltern werden ist ein Entwicklungsprozess. So berichten manche Frauen, dass sie Gefühle der Fremdheit. Distanziertheit, Unvertrautheit gegenüber dem Baby bemerkten. Der Aufbau einer Bindung verläuft nicht unbewusst im Sinne einer Prägung während einer „sensiblen Phase", sondern muss bewusstseins- und gefühlsmäßig geleistet werden. Dabei werden z.B. die vor der Geburt entstandenen Vorstellungen über das Kind unverzüglich korrigiert und mit der nun erfahrenen Realität des Kindes in Übereinstimmung gebracht.

Phase der Überwältigung und Erschöpfung (ca. 4 bis 8 Wochen nach der Geburt)

Der Zeitabschnitt direkt nach der Geburt stellt für die jungen Eltern eine Periode hoher Anspannung dar. Manche Eltern beobachten zum Beispiel ihr Kind während des Schlafens, um festzustellen, ob es noch atmet. Bei vielen Paaren sinkt die eheliche Zufriedenheit, zugleich bemühen sich die Paare, sich der neuen Situation anzupassen. Verschiedene emotionale Zustände wie Überwältigung, zum Teil Lähmung, intensive Glücksgefühle über ein gesundes Kind, aber auch negative, depressive und labile Stimmungen sind charakteristisch. Ursachen hierfür sind u. a. Erschöpfung infolge der körperlichen Anstrengungen, Müdigkeit und Schwächung der kognitiven Leistungsfähigkeit durch den veränderten Tages- und Nachtrhythmus.

Die Pflege und die Bedürfnisse des Kindes stehen jetzt im Vordergrund. Die Eltern lernen die Wach- und Schlafgewohnheiten des Kindes kennen und bekommen erste Erfahrungen mit der realen Ernährung und Pflege des Säuglings. Die erhöhte Belastung und die Einschränkung der Möglichkeiten, die Situation zu beeinflussen, verursachen Konfliktpotentiale, vor allem durch den Kontrollverlust über den eigenen Tagesrhythmus. Die Eltern akzeptieren dabei die Situation leichter, indem sie ein sich gut entwickelndes und zufriedenes Baby als Ergebnis ihrer Handlungen und Einschränkungen verstehen. Durch diese Art der Verarbeitung besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die Arbeit mit dem Kind (hier vor allem hei der Frau) als Zugewinn bzw. als Lust erlebt werden kann.

Auch der allgemeine Gesundheitszustand, die Art der Rollen- und Arbeitsteilung und die vorherige Ehezufriedenheit beeinflussen, wie Eltern die neue Situation verarbeiten. Die Unterstützung durch Familienmitglieder, Freunde und Bekannte kann dazu beitragen, den neuen Anforderungen gerecht zu werden, sofern sie tatsächlich an den Bedürfnissen der jungen Eltern orientiert sind.

Das Selbstbild der jungen Mütter und Väter ist in der Zeit kurz nach der Geburt sehr wenig gefestigt. Der Aufbau eines neuen, stabilen Selbstkonzepts wird durch ausgedehnten Kontakt mit dem Kind gefördert. Hinderlich wirken sich ein schwieriges Temperament des Kindes, physiologische Unregelmäßigkeiten beim Essen, Schlafen sowie starkes Schreien und Sorge um eine Gefährdung des Kindes aus.

Viele Frauen erleben in dieser Phase immer noch leichte Anzeichen von Angst und Depressivität, die zum Teil durch geringe Zufriedenheit mit der Mutterrolle und dem Gefühl des Ausgeliefertseins entstehen. Wie in der Verunsicherungsphase kann dies wieder zu einem gewissen sozialen Rückzug führen. Andererseits empfindet die Mutter trotz-dem intensive positive Gefühle für das Baby. Die Partnerschaftsbeziehung scheint in dieser Zeit sehr belastet zu sein. Die Eltern erfahren den Verlust des früheren Lebensstils; ab jetzt muss immer auch mit den Bedürfnissen des Kindes gerechnet werden. Geselligkeiten außerhalb der Wohnung werden zunehmend anstrengender und aufwendiger, z. T. sogar unmöglich, viele Beziehungen können nicht mehr, andere nur in vermindertem Ausmaß gepflegt werden. Manche Unternehmungen müssen ohne den Partner gemacht werden. Vor allem die Mütter knüpfen über das Kind neue Sozialkontakte, an denen die Männer nicht partizipieren. Andererseits erleben sie sich aber auch sozial isoliert, vor allem dann, wenn berufliche Kontakte abgebrochen werden mussten.

Phase der Herausforderung und Unterstellung (ca. 2. bis 6. Monat nach der Geburt)

Charakteristisch für die Phase der Herausforderung und Umstellung ist einerseits die zunehmende körperliche und psychische Erholung der Eltern und andererseits die regelmäßiger werdende Pflege und Versorgung des Babys. Die Eltern erkennen erste deutliche sozial-emotionale Aktivitäten des Säuglings und können seine fortschreitende motorische und kognitive Entwicklung verfolgen. Erste Vorläufer einer spezifischen Bindung des Kindes an Bezugspersonen lassen sich nachweisen. Die Eltern erleben dies als „Gewöhnung“. Sie haben nun gelernt, die Bedürfnisse des Säuglings besser einzuschätzen. Ebenfalls sind sie in der Lage, relativ umgrenzte Bereiche der kindlichen Persönlichkeit einzustufen.

Es ist eine Zeit starker Anstöße und Veränderungen des Selbstbildes der jungen Eltern. Sie können sich besser in die Situation ihrer eigenen Eltern hineinversetzen, was wiederum Effekte auf die Beziehungen zu den eigenen Eltern hat. Gut angepasste Frauen erleben sich in ihrem Selbstbild nun als der eigenen Mutter ähnlicher, dem Ehemann dagegen unähnlicher. Weniger gut angepasste Frauen überbetonen stereotype Mutterrollen. Hat die Mutter in vergangenen Situationen ihr Verhalten als uneffektiv erlebt, sinkt ihre Motivation, sich bei neuen Situationen aktiv einzubringen. Sie gewinnt zunehmend eine Überzeugung als inkompetente Mutter. Dies schmälert, unabhängig von ihrer tatsächlichen Kompetenz, die Effektivität im Umgang mit dem Kind, wodurch das Kind zunehmend unzufrieden wird, usw.

Ungefähr ab dem 6. Lebensmonat hat sich allgemein ein gut funktionierendes Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind etabliert; viele Frauen geben an, sich jetzt als „richtige Mutter” zu fühlen. Es setzt aber auch ein Ernüchterungsprozess ein. Die emotionale Befindlichkeit, vor allem der Frauen, ist abhängig vom Verhalten des Kindes, davon, wie die Rollen neu verteilt werden, und vom Ausmaß an sozialer Unterstützung bzw. Kommunikation. Ihre Lage wird ebenfalls beeinflusst durch die höhere Arbeitsbelastung, soziale Isolation und Abhängigkeit vom Partner. Die Verantwortung für die materielle Situation und der Rückgang sexueller Aktivitäten sind belastende Faktoren für den Mann.

Das Kind wird zunehmend sozial aktiv und beeinflusst seine eigene Situation. So gibt es seinen Eltern zum Beispiel durch Schreien eine Rückmeldung darüber, ob das augenblickliche Verhalten der Eltern den Bedürfnissen des Kindes entspricht.

Die kognitiven Aktivitäten der Eltern konzentrieren sich vor allem darauf, ein Bild vom eigenen Kind zu gewinnen; sie nehmen kontinuierlich neue individuelle Merkmale des Kindes wahr. Die Beziehungen zum Kind werden differenzierter.

Die jungen Eltern bilden erste Kompetenzüberzeugungen und Selbstvertrauen als Vater bzw. Mutter heraus. Erste Routinen mit dem Kind in Alltagssituationen werden entwickelt. So entstehen neue Freiräume, die unter anderem zur Pflege sozialer Kontakte genutzt werden können. Die Partnerbeziehung wird jetzt grundlegend anders erlebt als vor der Geburt. Viele Paare erleben eine Traditionalisierung der Geschlechterrollen. Diese Beurteilung hängt allerdings mit der Wahrnehmung und Bewertung der Partnerbeziehung zusammen. Der Verwandten- und Bekanntenkreis wird darauf hin durchforstet, wer z. B. in Notfallsituationen hilfreich zur Seite stehen kann. Der Ausbau von außer-familiären Beziehungen erfolgt durch eine Intensivierung von bereits vorhandenen Kontakten oder durch die Etablierung neuer Sozialkontakte, z. B. in Form von Nachbarschaftshilfen oder informellen Selbsthilfegruppen. Will die Mutter nach Beendigung des Mutterschutzes wieder berufstätig werden, muss jetzt die Versorgung des Kindes langfristig organisiert werden. Hierzu müssen Kontakte zu Kinderkrippen. Tagesmüttern, Verwandten u. a. aufgenommen werden.

Phase der Gewöhnung (ca. 6 bis 12. Monat nach der Geburt)

Gegen Ende des ersten Lebensjahres des Kindes hat sich die Situation der Partnerschaft meist wieder stabilisiert. Ab ungefähr dem 6. Lebensmonat des Kindes haben sich erste Routinen und Regelmäßigkeiten bei der Ausübung der Elternschaft eingestellt. Die Eltern sind nun in der Lage, sich an das Anspruchsniveau des Kindes anzupassen; sie können den Erwartungen des Kindes ebenfalls mit geringerem psychischen Aufwand begegnen. So ergibt sich eine Phase relativer Entspannung, Vertrautheit, Sicherheit und Gewöhnung.

Die Eltern erkennen nun deutlicher die individuellen Anlagen des Kindes und lassen ihm entsprechende differenzierte erzieherische Maßnahmen zukommen. Dabei richten sie sich nach ihren eigenen Vorstellungen, bekommen aber auch vielfach erbetene und ungebetene Vorschläge aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis. Aber auch unterschiedliche Reaktionen des Kindes auf die Erziehungsbemühungen fördern bzw. hemmen diese Aufgabe. Zu dieser Zeit scheint es bereits geschlechtsspezifische Erziehungsstile zu geben.

Unterschiede in den einzelnen Familienbiographien nehmen jetzt zu; sie ergeben sich u. a. aus Umzügen, wechselnden Betreuungsformen des Kindes, beruflichen Veränderungen, Krankheit, Partnerkonflikten, Verarbeitungsstrategien, die seit dem Beginn der Schwangerschaft eingeübt werden konnten, erweisen sich jetzt als hilfreich und können kritische Ereignisse abmildern. Es wurden ganz offensichtlich Ressourcen gebildet.

Gegen Ende des ersten Lebensjahres des Kindes ist in der Regel die Vater- bzw. Mutter-Rolle fest in das eigene Selbstbild integriert. Das Bewusstsein, Vater bzw. Mutter zu sein, nimmt in der Regel einen großen Raum ein. Eine Einschränkung der bisher realisierten Vielfältigkeit von Rollen und Beziehungen kann die Folge sein. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, mit dem Kind kindgerecht umzugehen, steigt. Ein Überdenken der bisherigen Ziele für das Familienleben beginnt. Wesentliche Faktoren für die Beurteilung sind die bisher durchgeführte Arbeitsteilung, ökonomische Bedingungen und der Lebensstil. Soziale Beziehungen außerhalb der Familie gewinnen wieder an Bedeutung. Sie werden wieder zunehmend aktiv gestaltet.

„Eltern werden“ ist eine unruhige Phase. Sie geht einher mit vielen Unsicherheiten und körperlichen wie psychischen Anspannungen. Und sie geht einher mit Kompetenzzuwächsen und Glückserfahrungen, mit der Entdeckung, viele Energiequellen zu haben, um die neue Situation zu meistern. Die geschilderten Phasen beschreiben dabei idealtypisch Aufgaben, die sich in diesem Prozess stellen. Doch jeder Mensch ist anders. Der eine erlebt dies stärker, die andere jenes. Aber die Erinnerung an die vielen Bereicherungen und die Erfahrung, auch schwierige Situationen selber gemeistert zu haben, kann für alle eine Ressource für das weitere Zusammenleben als Familie werden.

Christoph Werres